Mit Wohn-AGs vor Wohn-AGs schützen!
Bildet Banden! Oder doch lieber Aktiengesellschaften? Um die Wohnkrise langfristig zu lösen, braucht es eine Dekommodifizierung von Wohnraum, aber auch eine Erweiterung der Vielfalt an Wohnräumen. Aktiengesellschaften werden hier oft als Teil des Problems gesehen, können wie die nestbau AG aber auch zur Lösung beitragen.
»Wohnen ist Glückssache«, schreibt das CORRECTIV in einer Recherche über Wohnverhältnisse in Deutschland1. In unserer Mietnation, so ein mittlerweile weitgehend anerkanntes Verständnis, muss man sich ein gutes Mietverhältnis entweder leisten können oder eben Glück haben. Weit davon entfernt also, dass jede:r die Form des eigenen Wohnens diskriminierungsfrei und souverän bestimmen kann, bewegen wir uns in einem komplexen Krisenfeld, das nicht zuletzt von Wohnungsknappheit, Achsen sozialer Ungleichheit, ethnischer wie kultureller Diskriminierung, Bodenversiegelung und Folgeschäden des Klimawandels abgesteckt wird. Wie sollten wir mit dieser Krise umgehen? Braucht es »radikale« oder doch eher »pragmatische« Maßnahmen, damit menschenrechtskonformes Wohnen in Deutschland langfristig gelingt? »Sowohl als auch« lautet meine Kurzantwort. Es braucht einen pragmatischen Radikalismus oder – wem das zu radikal klingt – einen radikalen Pragmatismus.
2010 in Tübingen gegründet, ist die nestbau AG die erste »gemeinwohlorientierte Aktiengesellschaft im Immobilienbereich« und heute in der Planung, dem Bau und der Vermietung von Mietwohnungen tätig. Im hauseigenen Blog der Gesellschaft steht geschrieben: »An Ideen für einen zeitgemäßen Mietwohnungsbau der sozial, ethisch und ökologisch orientiert ist, fehlt es nicht. Gefragt sind unter anderem alternative Finanzierungs- und Eigentumsmodelle.«2 Aber was ist so »alternativ« an einer Aktiengesellschaft? Zunächst nichts: die nestbau AG finanziert sich wie jede andere Aktiengesellschaft auch über Verschuldung und den Verkauf von Unternehmensanteilen, die meist mit einem Profitinteresse von Menschen mit Geld gekauft werden. Dementsprechend renditeorientiert ist die nestbau AG auch.
Rendite mit Maß
Per Satzung verpflichtet sich das Unternehmen auf sozialökologische Ziele, eine Förderung der Stadtentwicklung und, als logische Konsequenz daraus, die Erzielung bloß einer »maßvollen Rendite«. Eine Stimmrechtsobergrenze sieht dabei vor, dass eine Person unabhängig von ihren tatsächlich gekauften Stimmrechten nur maximal fünf Prozent der insgesamt vorhandenen Stimmrechte ausüben kann. Ich könnte also die Hälfte des Unternehmens besitzen, doch in der kollektiven Entscheidungsfindung hätte ich nur die Entscheidungsmacht einer Person, die lediglich ein Zwanzigstel des Unternehmens besäße. So soll eine Verwässerung der Unternehmensziele durch Machtkonzentrationen oder Firmenübernahmen verhindert werden.
17 Prozent unter dem Mietenspiegel
Mit diesem Modell sind seit 2010 nun vier Neubauten im Tübinger Umfeld entstanden, darunter eine Wohngemeinschaft für ambulant betreute Personen und eine »Demenz-WG«. Weitere Projekte sind in Planung, wobei sich die Firma mit einem Projekt in Pfrondorf auch durchaus offen dafür zeigt, Grundstücken per Erbbaurechtvertrag eine unabhängig kontrollierte Zweckbindung zu verleihen.
Wie fällt die Sozialbilanz dieser Mietshäuser aus? Seitdem Ende 2021 das bislang größte Hausprojekt in Kirchheim unter Teck fertiggestellt worden ist, befinden sich nach Angaben der Unternehmung 17 Prozent der gesamten Mietfläche unterden ortsüblichen Mietpreisen. Wohlgemerkt gilt dies bei Mietpreisen, die im Umfeld Tübingens mit ungefähr 10 bis 12 Euro nettokalt pro Quadratmeter nicht gerade gering sind. Und es gilt für Neubauten, bei denen Mieter:innen im Vergleich zu den Referenzwerten des Kreditinstituts für Wiederaufbau mit 45 Prozent weniger Energieverbrauch sowie 30 Prozent besseren Wärmeschutz rechnen können und damit auch bei den Nebenkosten entlastet werden. Angesichts der jetzigen Preisexplosionen im Energiesektor ist das ein relevanter Punkt.
Rendite versus Gemeinwohl?
Man könnte jetzt einwenden, dass 17 Prozent gar nicht mal so viel sind und eine Rendite, die »maßvoll« ist, noch immer eine Rendite ist. Steht nicht die Orientierung am Profit grundsätzlich einer Orientierung am Gemeinwohl gegenüber, weswegen das Unternehmen immer Gefahr laufen wird, seine sozialökologischen Ziele zu verwässern? Klar, das könnte sein. Aber dies gilt genauso für staatliche und genossenschaftliche Wohnprojekte. Ein Blick in die Geschichte der BRD zeigt, wie auf die Wohnungsnot der Nachkriegszeit mit durchaus effektiven Mitteln reagiert wurde. Auf staatlicher Seite wurde nicht nur mit kontroversen Schritten wie Mietpreisregulierungen oder Zwangsbewirtschaftungen vorgegangen, auch wurden wohngemeinnützige Genossenschaften steuerlich begünstigt, wenn sie breitflächig bezahlbaren Wohnraum schufen. Zugleich entstanden auf gesellschaftlicher Seite immer wieder zivil organisierte Wohnprojekte, die sich einerseits schlicht selbst halfen, indem sie als geeinte Interessengruppe auf Wohnungsmärkten auftraten, aber bisweilen auch sozialökologische Ziele verfolgten oder einen innovativen Experimentierraum beim Wohnen aufmachten.
Aber auf diese Bemühungen, dass es wieder gut läuft, schuf man relativ schnell Bedingungen dafür, dass es wieder schlecht laufen kann. So kam es, dass wirkliche Fortschritte in der Wohnungsfrage mögliche Rückschritte gleichsam vorbereiteten – dass die Wohngemeinnützigkeit abgeschafft, Sozialwohnungen wie in Berlin privatisiert, Mietpreisregulierungen erschwert, kommunale Akteure gegenüber privatwirtschaftlichen Akteuren geschwächt wurden. Oder dass zivile Wohnprojekte wegen eines häufig kräfteraubenden Engagements in der idealistischen Phase in eine »realistische« Phase wechselten, sozialökologische Werte herabsetzten oder im Extremfall sogar das Projekt renditeorientierten Unternehmen überließen.
Die Falle der Prekarisierung
Die vermeintliche Wahl zwischen verlässlichen Institutionen auf der einen und unverlässlichen auf der anderen Seite ist deshalb trügerisch. Wieso es dann nicht auch mit einer gemeinwohlorientierten Aktiengesellschaft versuchen? Denkt man das Projekt einmal auf einer größeren Skala, könnte dieses Modell sogar Teil einer radikal-pragmatischen Lösung der Wohnkrise sein. Wo nämlich die Überlastung durch die Mietkosten in den armutsgefährdeten Einkommensgruppen allein für die Nettokaltmiete breitflächig steigt, kann zugleich das belastende Mietverhältnis aufgrund schrumpfender Ersparnisse oder schwindender Sozialwohnungen nicht verlassen werden. Das Ergebnis ist eine finanzielle Exponiertheit gegenüber der vermietenden Partei und eine Mietfalle der Prekarisierung. Allerdings passiert das nicht ohne Grund. In direktem Zusammenhang dazu stehen strukturelle Anreize in den einkommensstärkeren Gruppen, in sogenannte Renditeobjekte wie Wohnimmobilien zu investieren. Einkommen, das dermaßen hoch ausfällt, dass es nicht mehr vollständig verkonsumiert werden kann oder will, muss fast schon investiert werden – zumindest, sofern es nicht inflationsbedingt an Wert verlieren soll oder man für das Alter vorsorgen möchte. Entsprechend zur sozialen Ungleichheit ist in Deutschland daher die Investitionsstrategie bewährt, Wohnungen aufzukaufen, zu vermieten und dabei sukzessive die Mieten zu erhöhen.
Die einen stecken also in der »Mietfalle«, die anderen in der »Investitionsfalle« – aber warum kann hier das Modellnestbau AG einen Beitrag zur Lösung leisten? Sollte man nicht eher auf Instrumente pochen wie zum Beispiel die starke Erhöhung des Wohngeldes, eine massive Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen oder die Vergesellschaftung von Wohnkonzernen, die das Gemeinwohl gefährden?
Indirekte und direkte Ansätze kombinieren
Da ist etwas dran. Jedoch kann nicht geleugnet werden, dass es sich hier um teils hoch kontroverse Ansätze handelt, die realpolitisch auf gehörige Widerstände stoßen – was sich aktuell nicht allein im zögerlichen Umgang der Berliner Regierung mit der eigentlich erfolgreichen Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen zeigt, sondern auch in jüngstvergangenen Gerichtsurteilen wie zum Beispiel die Kippung des Mietendeckels durch das Bundesverfassungsgericht oder des Vorkaufrechts zum Milieuschutz durch das Bundesverwaltungsgericht.
Neben indirekten Lösungsansätzen, die zum Beispiel über Umwege der Umverteilung, Vergesellschaftung oder des Rechtsschutzes die Miet- und Investitionsfalle zu lindern versuchen, braucht es daher vermehrt Akteure, die direktzwischen diesen beiden Problemzonen vermitteln können, also das Geld der einen einsammeln, um damit günstige Mieten für die anderen austeilen zu können. Zudem kommt man bei einer langfristigen Lösung der Wohnkrise um einen multimodalen Lösungsansatz nicht herum, bei dem unterschiedliche Institutionen zusammen unterschiedliche Alternativen anbieten, sodass für möglichst viele niedrigschwellig etwas dabei ist. Basisdemokratische Wohnprojekte etwa können real exkludierend gegenüber Menschen sein, die arbeits- oder gesundheitsbedingt wenig Kapazitäten haben, wodurch sie sich nicht einbringen können3. Und dass staatlicher Wohnbesitz nicht bedingungslos verlässlich ist, wurde schon betont. Schließlich bilden auch zivile Selbsthilfeprojekte wie Wohngenossenschaften keine Alleinlösung. Sofern sich hier eine begrenzte Anzahl an Menschen zusammenschließt, um als Interessengruppe auf Wohnungsmärkten aufzutreten, sind weiterhin alle diejenigen, die nicht zur Gruppe gehören, auf Akteure angewiesen, die die Mieten niedrig halten. Wie es von Seiten der nestbau AG heißt: »Die nestbau AG baut mit dem Geld der Anlegerinnen und Anleger bezahlbare Mietwohnungen für andere.« Auch wenn man aufgrund des Titels dazu geneigt ist, dem zu misstrauen: gemeinwohlorientierte Aktiengesellschaften können anderen helfen.
Die Wunde schließt der Speer auch, der sie schlug
Wie können wir also mit dem Komplex namens Wohnkrise umgehen? Klar ist, dass die Forderungen nach einer Dekommodifizierung von Wohnraum angesichts wirklicher Probleme im Warencharakter des Mietens zwar vollkommen berechtigt sind, aber im Sinne der oben genannten Gründe nicht die möglichen Vorteile eben dieses Warencharakters verdecken sollten. Freilich besteht eine strukturelle Exponiertheit gegenüber der vermietenden Partei, die uns weit von einem menschenrechtskonformen Zustand entfernt. Umgekehrt handelt es sich beim Mieten aber um eine flexible und mobile Form des Wohnens, die mit weniger Verantwortung und mehr organisatorischer Entlastung einhergeht.((Ich danke Franziska Haider dafür, dass sie mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat.)) Unter den richtigen Umständen ist dementsprechend nichts verwerflich an dem Konzept, dass die einen per Arbeitsteilung das Wohnen für die anderen organisieren und sich dafür von ihnen angemessen bezahlen lassen. Im Gegenteil: in Kombination mit anderen Lösungssträngen wäre dieses Konzept ein Weg zu mehr Wohnsouveränität für alle. Frei nach Richard Wagner: Die Wunde schließt der Speer auch, der sie schlug. Bildet daher nicht nur Banden, sondern auch vermehrt Aktiengesellschaften!
- https://correctiv.org/aktuelles/2020/07/15/transparenz-im-immobilienmarkt-ergebnisse-fuer-muenchen-augsburg-und-wuerzburg/ [↩]
- https://www.nestbau-ag.de/blog/zukunft-der-stadt-fuehrt-ueber-neue-konzepte-im-mietwohnungsbau [↩]
- vgl. Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, 8. Auflg., Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, S. 210 [↩]