Die Eigentumspionier*innen
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Mit Verantwortung durch die Krise: Was Purpose-Unternehmen resilienter macht. Mit Ausbruch der Covid-19 Pandemie geriet die Wirtschaft ins stocken und schnell war klar: Es bahnt sich eine Wirtschaftskrise an. Auf den Abschwung reagierten konventionelle Unternehmen mit »alt bewährten« Mitteln. Es folgten Zeitarbeit, Entlassungen und Kostenreduktion. Welche Handlungsspielräume eingeräumt werden, wenn das oberste Credo nicht mehr »generiere Rendite« lautet, zeigt Gesa Marken in ihrer Studie zu Purpose-Unternehmen auf. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den zweiten von sechs Teilen. Unterhalb des Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen.
Unternehmen in Verantwortungseigentum
»Wir waren ja in den 80ern mal Ökopionier. […] Wir sind jetzt Eigentumspionier«, erklärt die Geschäftsführerin eines Unternehmens in Verantwortungseigentum. Diese neue Eigentumsform bedeutet, dass die Unternehmen nicht den Gründer*innen, Investor*innen oder Unternehmer*innen, sondern »dauerhaft ›sich selbst‹ gehören« (Hensen 2020, S. 161). Ungewöhnlich, aber eigentlich ganz einfach. Es gibt verschiedene rechtliche Konstrukte zur Umsetzung von Verantwortungseigentum, doch kommt es bei allen Varianten auf zwei Kernelemente an: das Selbstbestimmungsprinzip und das Sinnprinzip.
- Das Selbstbestimmungsprinzip garantiert, dass alle Stimmrechte bei den Menschen liegen, die direkt mit dem Unternehmen verbunden sind. Sie sind nicht verkäuflich oder vererblich (ebd.).
- Das Sinnprinzip garantiert, dass das Unternehmen an einem gesellschaftlichen Sinn orientiert ist. Die Maximierung von Gewinnen oder der Rendite ist nicht als zentraler Unternehmenssinn vorgesehen (Canon et al. 2020).
Das materielle Vermögen der Unternehmung ist durch ein ›asset-lock‹ geschützt. Da es nicht personalisier- und privatisierbar ist, kann es nur reinvestiert, gespendet oder in Sonderfällen mit einer Deckelung ausgezahlt werden (Hensen 2020). Damit sind die Gewinne »Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck« (ebd., S. 162). Verantwortungseigentum stellt eine demokratischere Alternative zu feudalistischen Eigentumsstrukturen von Unternehmen dar und gewährleistet, dass ein Unternehmen nicht zu einem Spekulationsobjekt mit Renditeerwartung wird, sondern zur gesellschaftlichen Versorgung beiträgt (Hensen 2020): Eine Unternehmung ist aus dieser Perspektive »nicht unbedingt dafür da, immer nur Gewinn zu machen, sondern […] hat ja einen ganz anderen Sinn« (Interview Purpose-Unternehmen).
Die rechtliche Verankerung von Verantwortungseigentum ist seit vielen Jahren möglich, aber aufwendig, zum Beispiel durch juristische Konstrukte wie Einzel- oder Doppelstiftungsmodelle (Canon et al. 2020). Diese Stiftungslösungen sind mit hohem Aufwand verbunden, sodass sie gerade für kleinere Unternehmen häufig nicht umsetzbar sind: »Das ist aber extrem teuer und zeitaufwändig. Und man muss jedes Jahr [… an] die Stiftungsaufsicht reporten, und das ist super aufwendig« (Interview Purpose-Stiftung). Aus diesem Grund hat sich in Deutschland ein dritter Ansatz etabliert: das Veto-Anteils- Modell. In ihm wird das Unternehmen von Treuhand-, also Verantwortungseigentümer*innen geführt, die über 99 Prozent der Stimmrechte verfügen. Sie sind eng mit dem Unternehmen verbunden, haben keine Rechte auf Gewinnbezug und können ihre Stimmrechte weder verkaufen noch weitergeben (Canon et al. 2020). Eine Stiftung, die auf Veto-Recht spezialisiert ist, hält das übrige Prozent der Stimmrechte und legt im Falle einer Satzungsänderung, die Verantwortungseigentümer*innen zu Vermögenseigentümer*innen umschreiben soll oder gegen sonstige Prinzipien des Verantwortungseigentums verstößt, kurzerhand ein Veto ein (ebd.). In Deutschland übernimmt die Purpose-Stiftung die Umsetzung des Veto-Anteil-Modells. Um den Schwierigkeiten einer eigenen Stiftungslösung entgegenzuwirken, »hat die Purpose- Stiftung eine Stiftung gegründet, die sozusagen als Mittelsmann fungiert, die als ›Stiftung as a service‹ fungiert« (Interview Purpose- Stiftung). Zu den Purpose-Unternehmen1, mit denen die Purpose- Stiftung zusammenarbeitet, gehören produzierende Unternehmen aus der Ernährungswirtschaft oder der Modebranche, aber auch Dienstleistungsunternehmen und Tech-Start-ups.
Eine begründete Vermutung
Die Veto-Anteils-Lösung der Purpose-Stiftung ermöglicht es Unternehmen, das, wofür sie da sind, in ihrer Eigentumsform zu verankern. Diese Unternehmen sind in ihrer Sinnverfolgung nicht nur glaubwürdiger (Hensen 2020). Eine Unternehmung in Verantwortungseigentum ist »außerdem weniger anfällig für politische und wirtschaftliche Krisen« (Canon et al. 2020, S. 9), da der asset-lock »Liquiditätspolster« (Tönnesmann 2020, S. 20) aufbaut, die als organizational slack auch in Krisen (Überschuss) Kapazitäten bilden. Zudem entscheiden sie und orientieren sich längerfristiger, da es keine kurzfristigen Renditeerwartungen gibt (Hensen 2020). Stiftungslösungen sind also im Vergleich zu anderen Eigentumsstrukturen stabiler, und die Unternehmen sind längerfristig gesichert (Thomsen et al. 2018). Daraus ergibt sich »eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit in wirtschaftlich schwierigen Zeiten« (Hensen 2020, S. 170).
So berichtet auch die Purpose-Stiftung im Zuge der Corona- Pandemie davon, wie wenig anfällig die Unternehmen in Verantwortungseigentum für diese Krise waren. Bereits zu Beginn der Pandemie wurden Eindrücke gesammelt, die sich auch fast ein Jahr später bestätigten: »Die Unternehmen, mit denen wir ganz eng zusammenarbeiten, denen geht es allen nach wie vor gut« (Interview Purpose-Stiftung). Dies liegt zum einen daran, dass die Unternehmen einen erfolgreichen Umgang mit Liquiditätsengpässen gefunden haben: »Wir wissen, dass wir gut durchkommen, weil wir so viele Rücklagen haben« (Interview Purpose-Stiftung). Zum anderen spielten dynamische Fähigkeiten eine Rolle. Die Purpose-Stiftung wurde diesbezüglich selbst aktiv und sammelte Beispiele für weitere, kreative Lösungen im Umgang mit der Krise: »Durch die Krisengeschichten wurde relativ schnell klar, […] dass die alle überhaupt kein Problem hatten« (Interview Purpose-Stiftung):
»Ich war völlig baff, was da zurückkam, weil […] ich hätte gerechnet mit vielleicht ein, zwei Antworten. Ich habe ja auch teilweise die CEOs und so angeschrieben. Und es haben, ich würde sagen, 70 Prozent haben, oder 80 Prozent haben geantwortet und alle hatten eine gute Story.« (Interview Purpose-Stiftung)
Da es den Purpose-Unternehmen inmitten der Krise und anders als dem Gros ökonomischer Organisationen gut ging, scheinen sie über spezifische Kapazitäten und Fähigkeiten zu verfügen, die es ihnen ermöglichten, nicht nur zu reagieren, sondern auch zu gestalten. Welche Umstände und Fähigkeiten ermöglichten diesen Umgang? Welche Bewältigungsstrategien und welche neuen sozialen wie unternehmerischen Praktiken wurden von ihnen erprobt?
Die Vermutung überprüfen
Um systematisch und begründet nachvollziehen zu können, wie Unternehmen in Verantwortungseigentum Bewältigungsstrategien mit der Krise entwickeln konnten, wurden mithilfe rekonstruierender Interviews einerseits die Rahmenbedingungen ihres Handelns ergründet, andererseits die impliziten Routinen und Muster aufgedeckt, die den Umgang mit der Krise ermöglichten. Die Fähigkeiten, um die es dabei geht, sind nicht nur äußerlich erkennbar, sondern verankert in den Normen und den Routinen, den geschriebenen wie den ungeschriebenen Gesetzen einer Organisation (Ritter und Pedersen 2020). Sichtbar werden diese Strukturen in der kleinsten sozialen Einheit: der Praktik, also in den Vollzügen ihrer Verwirklichung. Als ein Zusammenspiel aus Handlung und Kommunikation, als materieller Umgang mit Körpern und Artefakten, als »ein Können, ein know how, ein Konglomerat von Alltagstechniken« (Reckwitz 2003, S. 289) spiegelt die Praxis das kollektive, implizite Wissen einer Gruppe wider. In Unternehmen zählen dazu unter anderem die alltäglichen Abläufe, Prozesse und Systeme der Entscheidungsfindung, die Umgangsweisen und die Kommunikation. Obwohl dies häufig starr erscheint, ist Praxis wandelbar und unberechenbar. Routinen werden in der »relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs« (Reckwitz 2003, S. 294) unterbrochen und angepasst, zum Beispiel in Krisensituationen. Hier tritt das Dynamische der praktischen Fähigkeiten hervor. Die Unberechenbarkeit zeigt auf, ob die Praxis auch eine Fähigkeit bleibt – im Umgang mit dem Unbekannten, dem Neuen. Oder inwiefern die Fähigkeit darin besteht, auch im Dynamischen, im Unberechenbaren, die Praktiken zu wandeln und neue Wege zu suchen und zu finden, die nicht in der geschlossenen Wiederholung von alltäglichen Routinen und im Rückzug zu den Gewohnheiten des business-as-usual liegen.
Um die soziale Praxis der Krisenreaktion rekonstruieren zu können, wurden die unmittelbar Beteiligten in den Purpose-Unternehmen befragt. Durch das Wissen des internen Umgangs mit der Pandemie sind sie Expertinnen für den Kontext ihres Unternehmens. Die Befragung fand mit semi-standardisierten, Leitfadeninterviews statt und wurde mithilfe einer qualitativ- strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet.2 Die Befragung der Expertinnen erfolgte in zwei Schritten: Zunächst wurde eine Mitarbeiterin der Purpose-Stiftung als Expertin zu Verantwortungseigentum in Deutschland interviewt. Im zweiten Schritt wurde ein Unternehmen in Verantwortungseigentum auf Empfehlung der Purpose-Stiftung ausgewählt und die Geschäftsführerin eines Versandhandels für Naturmode und Bioprodukte zu ihren Erfahrungen in der Corona-Krise interviewt. Beide Interviews dauerten circa 45 Minuten und wurden aufgrund der anhaltenden Pandemie-Situation digital als Videokonferenz durchgeführt.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Mit Verantwortung durch die Krise: Was Purpose-Unternehmen resilienter macht. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:
- Teil 1: Verantwortung leben
- Teil 2: Die Eigentumspionier*innen
- Teil 3: Neue Herausforderungen erfordern neue Routinen
- Teil 4: Mit Weitsicht Verantwortung übernehmen
- Teil 5: Was Purpose-Unternehmen befähigt
- Teil 6: Wie wollen wir wirtschaften?
Die gesamte Studie im Open Access lesen.
- Im Folgenden werden die Begriffe Purpose-Unternehmen und Unternehmen in Verantwortungseigentum synonym verwendet, auch wenn es sich bei einzelnen Beispielen um Unternehmen mit Einzel- oder Doppelstiftungsmodellen unabhängig von der Purpose-Stiftung handelt. [↩]
- Die Datenerhebung orientierte sich an Gläser und Laudel (2009), die Auswertung an Kuckartz (2016). Für eine genauere Beschreibung der Methode siehe Hochmann in diesem Band. [↩]