Leere Tanzflächen und geschlossene Theater
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kultur aus der Tiefe: Tanztheater und Clubkultur zwischen Möglichkeiten und Prekaritäten. Im Zuge der, durch die Covid-19 Pandemie herbeigeführten Kontaktbeschränkungen und Veranstaltungsverbote wurden große Teile des Kultursektors vor existentielle Herausforderungen gestellt. Der Autor der Studie, Nico Berthold, setzt sich exemplarisch anhand des »objekt klein a« (OKA), einem Dresdner Club im alternativen Milieu, und im Austausch mit Wiete Sommer, mit diesen Herausforderungen und möglichen Bewältigungsstrategien auseinander. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sieben Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den ersten von sieben Teilen. Unterhalb des Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen.
Von Social Distancing und Systemrelevanz
Das gesellschaftliche Leben ist vielerorts durch die Corona- Pandemie in kurzer Zeit auf den Kopf gestellt worden. Soziale Interaktionen, die zuvor essenzieller und mitunter existenzieller Bestandteil unserer Lebensgestaltungen waren, wurden plötzlich zu potenziellen Infektionsquellen. Was zuvor das Leben förderte, drohte nun mit Lebensgefahr, zumindest für einige Teile der Gesellschaft. Medial vielbeachtet waren die Probleme, welche auftraten für den wirtschaftlichen Teil unseres Zusammenlebens. Seine vermeintliche Abhängigkeit von Wachstum und Sachzwängen konnte plötzlich die tagtägliche Reproduktion nicht mehr wie selbstverständlich gewährleisten. Besonders betroffen und gefährdet waren und sind jene Sektoren, welche auf menschliche Nähe und Interaktion angewiesen sind.
Das Interesse meiner Forschung gilt daher dem Kultursektor, der in besonderer Weise von menschlicher Interaktion lebt. Rasch zeigte sich nach Ausbruch der Pandemie im Jahr 2020, dass er politisch hierzulande als entbehrlich gilt: als eine Kirsche auf dem großen Kuchen jener Wirtschaft, welche als nicht systemrelevant deklariert wurde. Was es bedeutet für die Institutionen und Akteur*innen, welche schon zuvor mit Prekarität und fehlender gesellschaftlicher
Wertschätzung zu ringen hatten, über einen so langen Zeitraum nicht wirken zu können, trieb meine Forschung an. Statt auf die durchprofessionalisierte Hochkultur legte ich das Augenmerk auf die weniger beachteten, marginalisierten, in der Tendenz machtloseren Akteur*innen aus der Tiefe des Kultursektors: die Subkultur, die Clubkultur und die freischaffenden Akteur*innen der freien Szene. Die Geschichte des Gelingens, die ich mit diesem Beitrag erzählen werde, ist nicht pur, es ist keine reine Erfolgsgeschichte und doch dokumentiert sich in ihr ein Erfolg: die Deutungsmacht über die eigene Unternehmung zu erlangen und eine Stimme zu bekommen, wo zuvor keine gewesen ist.
Der große Schnitt
Leere Tanzflächen, geschlossene Theater, versperrte Ausstellungsräume und in ihren Wohnungen eingeschlossene Künstler*innen. Stattdessen Autokino-Theater, tanzende Menschen auf Gymnastikmatten, gestreamte DJ-Sets und provisorisch aufgebaute Corona-Teststationen. Die neue und sich ständig verändernde Realität der Kunst-, Kultur- und Veranstaltungsbranche hat seit dem Beginn der Corona-Pandemie allerlei neue Ideen, Formen und Konzepte hervorgebracht. Trotz ermüdendem On-Off-Modus probierten die Veranstalter*innen und Kulturschaffenden, kreativ auf Kontaktbeschränkungen und Hygienevorschriften zu reagieren. Selbst unter den widrigen Umständen wollten sie ihrem Publikum die Versorgung mit Zerstreuung, Inspiration und im weitesten Sinne Kulturgenuss gewährleisten. Aussitzen war und ist für die meisten keine Option. Aber die Ungewissheit bleibt die allgegenwärtige Begleiterin in dieser Zeit. Es bleibt unklar, wann und ob die Branche wieder zu ihrem sogenannten ›Normalzustand‹ zurückkehren können wird. Eine Tanzfläche, voll mit tanzenden und dabei schweratmenden Menschen? Gegenwärtig ein eher surreal anmutendes Bild.
Zu Beginn der Pandemie bescheinigte der Chef-Virologe der Charité, Christian Drosten, den Berliner Clubs gar ein Superspreader-Potenzial (Business Insider Deutschland 2020). Ein anhaltender Shutdown der Clubs, der Konzertbetriebe und anderer Kultureinrichtungen bis zum Ende der pandemischen Lage schien dementsprechend unausweichlich. Aus der Perspektive der Künstler*innen, Musiker*innen und Schauspieler*innen bringt dies mit sich, in ihren häufig prekären Lebenssituationen, getrennt von Kolleg*innen und ihrem Schaffen, anhaltend auszuharren. Realitäten und Betroffenheit unterscheiden sich. Je nachdem, ob festangestellt oder freischaffend, genießen einige die Vorteile der Kurzarbeit, wohingegen andere mit ihrem Hartz-4-Satz am Existenzminimum leben. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Mechanismen der Exklusion müssen sie aushalten lernen. Auf der Seite der Konsument*innen bedeutete der Shutdown – anders als auf gesamtgesellschaftlicher Ebene trifft der Begriff hier den Kern der Sache – einen zunehmenden Mangel an kultureller Erfüllung. Mitunter bedeutete er auch den Verlust von identitätsstiftenden Orten, an denen Menschen sich entfalten, sie selbst sein und Freiheit leben können, ohne beispielsweise für ihre Sexualität, ihre Erscheinung oder ihr Geschlecht diskriminiert zu werden (Kienzl und Högele 2020).
Die Stimmung im Kultursektor dominierten trotz dieser misslichen Lage lange Verantwortung und Solidarität. Doch mit jedem weiteren Monat wuchs und wächst die Unzufriedenheit und auch das Unverständnis gegenüber den politischen Entscheidungen (Klubnetz Dresden e. V. 2021): Warum zielen die neusten politischen Entscheidungen – trotz Warnungen von verschiedenen Aerosolforscher*innen – nicht darauf ab, das soziale und kulturelle Leben mit funktionierenden Hygienekonzepten an der frischen Luft zu ermöglichen? Warum werden die verschiedenen Sektoren, Branchen und Organisationen so ungleich, so ungerecht behandelt? Warum gilt die Systemrelevanz nicht auch für Kultur und Kunst, wenn nebenher Baubranche, Automobil- wie Fleischindustrie sowie der Flugverkehr aufrechterhalten und massiv subventioniert werden, in Teilen bei gleichzeitiger Ausschüttung von Dividenden? Immerhin ist der Kultursektor der zweitgrößte Wirtschaftszweig in Deutschland (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie o. J.). Gerade in Anbetracht der gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Klimakrise wirkt diese Politik grotesk, wie ein schlechter Scherz. Besonders schmerzt, wenn Kulturakteur*innen aus der Isolation dabei zuschauen müssen, wie andere Sektoren und Akteur*innen ihre Privilegien so sehr überreizen, dass ein Ende der pandemischen Lage in immer weitere Ferne rückt. Der Egoismus einiger weniger wird so auch auf dem Rücken von Kunst und Kultur ausgelebt. Die angekündigten Überbrückungshilfen erreichen die Akteur*innen zudem häufig nicht. Dass es auch anders ginge, zeigt ein Blick über den europäischen Tellerrand: in anderen Ländern werden die ersten großen Kulturveranstaltungen wieder möglich. In Deutschland werden unterdessen Pilotprojekte gestoppt und Open-Air- Veranstaltungen als Alternativen kaum besprochen (Wojcik 2021). Die Differenzierung fehlt. Stattdessen wird abgeschaltet, was sich politisch kein Gehör zu schaffen vermag.
In dieser Phase will ich die Hoffnung bewahren und konservieren, will ich ermutigen, neue Wege zu testen, solidarisch zu sein und gemeinsam auf sich aufmerksam zu machen. Dafür habe ich ein Gespräch geführt mit Wiete Sommer. Die studierte Modedesignerin ist ein Teil der Gruppe, welche den in Dresden ansässigen Club Objekt klein a (OKA) gegenwärtig durch die Corona-Krise begleitet. Gemeinsam suchen sie nach Möglichkeiten der Finanzierung und nach neuen, pandemiekonformen Weisen der Kulturvermittlung und Kunstausübung. Neben diesem zusätzlichen Engagement ist sie primär für das Design und Merchandise zuständig und neuerdings auch als freischaffende Veranstalterin tätig. Im Sommer des Jahres 2020 konnte sie unter den verschärften Hygienebedingungen ihr erstes selbstinitiiertes Projekt realisieren. Das Werk Stamina, welches sie gemeinsam mit 25 anderen Tänzer*innen, Künstler*innen und Kulturakteur*innen erarbeitete, reflektiert und thematisiert diesen diffusen Zustand in der Veranstaltungsbranche. Auf künstlerische Art und Weise behandelten sie die existenzielle Problematik in Form einer hybriden Tanztheater-Ausstellung in den verschiedenen Räumen des objekt klein a.
In dem Interview gab sie mir Einblicke in die Strukturen des OKA und auch in ihre Rolle und Situation als freischaffende Akteur*in im Kontext der Corona-Pandemie. Aus dem empirischen Material entnehme ich im Folgenden die relevanten Aspekte zum dynamischen Umgang mit der Krise, den daraus neugeschaffenen Praktiken, den Barrieren auf dem Weg und dem transformativen Potenzial, das darin eingelagert ist (methodisch siehe Hochmann in diesem Band).
Der Raum des Begehrens
Seit dem Frühjahr 2017 wirkt das objekt klein a in der Dresdener Kultur- und Clubszene. Der Name ist angelehnt an den Genussüberschuss in der Theorie des Imaginären des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan. Das Programm der Kultur- Unternehmung variiert und bietet abwechslungsreiche Abende, quer durch verschiedene Genres der Musik, Filmvorführungen, alternative Kunst-Festivals und auch wissenschaftliche Vorträge und Diskussionen zu clubkulturellen Themen. Für die Dresdner Kulturlandschaft ist der Ort seit der Eröffnung eine Bereicherung. Während es in den umliegenden Metropolen Leipzig und Berlin schon länger Clubs mit ähnlichen Konzepten gab, war in der Dresdner Szene noch Raum für Entwicklung. Diese Leerstelle hat das OKA gefüllt und seitdem seinen Teil dazu beigetragen, dass Clubkultur als ernstzunehmender Teil des schützenswerten Kulturangebots wahrgenommen wird. Mit ihrem vielfältigen kulturellen Angebot ist die Kultur-Unternehmung auch ein Symbolbild für eine neue Form von Clubkultur, die nicht mehr unbesehen in die Schublade des reinen Amüsements und Konsums gesteckt werden möchte.
Mit ihrer Strategie, ihrem Geschäftsmodell und ihren organisationalen Abläufen hat das OKA für die großen Dresdener Institutionen neues Terrain betreten und Maßstäbe gesetzt. Kollektiv geführt, mit flachen Hierarchien und Plenarsitzungen zur Organisation versuchen die Betreiber*innen, andere Wege zu gehen als den der Profitmaximierung und des Kulturkonsumismus. Ähnliches gilt für die ›Türpolitik‹ und das Konzept der Awareness. Der Club will ein Ort sein, an dem es möglich ist, in einem diskriminierungs- und sexismusfreien Rahmen Veranstaltungen zu genießen. In den ersten Jahren wurden allabendlich zu Beginn ausnahmslos alle Besucher*innen von den Türsteher*innen aufgeklärt, was das im Konkreten bedeutet. Verstöße können gemeldet und geahndet werden, und die Besucher*innen wurden dazu aufgefordert, dies auch zu tun. Gendersensibel wurden zudem die Toiletten gestaltet, das heißt nicht binär, sondern unisex. Auch das Eintrittsgeld ist solidarisch inkludierend organisiert, indem es für die meisten Veranstaltungen ein Spektrum-von-bis gibt, das je nach individuellen Möglichkeiten und Ermessen gilt.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kultur aus der Tiefe: Tanztheater und Clubkultur zwischen Möglichkeiten und Prekaritäten. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sieben Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:
- Teil 1: Leere Tanzflächen und geschlossene Theater
- Teil 2: Ungewisse Zukunft des Kultursektors
- Teil 3: Die Kultur-Szene kriselt
- Teil 4: Virtuelle Räume der Begegnung
- Teil 5: Wie Kultur unternehmen?
- Teil 6: Kultur braucht Anerkennung
- Teil 7: Wider die Sachzwänge
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