Ungeplant Krisenfest
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kollektives Verändern durch digitale Teilhabe: Politische Bildungsarbeit in der Krise. Das Feld der politischen Bildung lebt von einer Vielzahl kleinerer Vereine, die Workshops und öffentliche Veranstaltungen ausrichten. Die Covid-19 Pandemie stellte diese Vereine vor schwerwiegende Herausforderungen, denn plötzlich sind große Teile ihrer Arbeit nicht mehr möglich und die oftmals schon vor der Pandemie prekäre Finanzierungslage spitzt sich weiter zu. Dass diese Herausforderungen nicht zwangsläufig in Ohnmacht münden müssen demonstriert das F3_kollektiv. In ihrer Studie setzt sich Pina Schubert mit den Strategien zur Krisenbewältigung des Kollektivs mit thematischem Schwerpunkt »Digitalisierung aus einer machtkritischen Perspektive« auseinander und zeigt dessen transformatives Potential auf. Praxispartnerin ist Mitgründerin des F3_kollektivs, Evelyn Linde. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in fünf Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den ersten von fünf Teilen. Unterhalb des Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen.
Das F3_kollektiv und Corona
Mein Forschungspartner war das F3_kollektiv, das im Jahr 2019 gegründet wurde und mittlerweile ein gemeinnütziger, eingetragener Verein ist, der sich insbesondere dem Themenkomplex der Digitalisierung aus einer machtkritischen Perspektive widmet. Als noch ausgesprochen junge Organisation in der politischen Bildungsarbeit, die sich auch weiterhin im Aufbau befindet, bezieht sie ihr Motto nicht lediglich auf ihre Arbeit mit jungen Menschen, sondern ebenso auf die eigene Arbeit in und an ihren Kollektivstrukturen: »bilden, suchen, verändern – und dieses Bilden, Suchen, Verändern beziehen wir auf unsere Haltung, unsere Haltung in der Bildungsarbeit, aber auch auf unser Kollektiv« (Interview F3_kollektiv). Regelmäßig und gemeinsam auf die eigene Tätigkeit zu reflektieren, auch in Bezug auf die Machtstrukturen innerhalb des Teams, ist eine besondere und zugleich selbstverständliche Praxis des Kollektivs.
Diese Geschichte ist eine des Gelingens, aber sie ist keine reine Erfolgsgeschichte. Auch für das F3_kollektiv handelt es sich bei der COVID-19-Pandemie zunächst um ein »Unglück« (ebd.), um eine Krisensituation. Konstellationen wie diese bedeuten »einen Zusammenprall von Verhältnissen und handelnden Menschen, in dem die Menschen zunächst unterzugehen scheinen, wie ihnen das Gesetz des Handelns völlig entgleitet, und in dem sie verzweifelt, aber eben mit der Kraft ihres Verstandes, versuchen, eben dieses Gesetz des Handelns wieder in die Hand zu bekommen und die Dinge zu ihren Gunsten zu wenden« (Steffens 2013, S. 41). Trotz einer im Vergleich betrachtet guten Ausgangslage der Bildungs- Unternehmung mussten Veranstaltungen im März des Jahres 2020 zunächst abgesagt und auch weiterhin »ständig irgendwie reagiert« (Interview F3_kollektiv) und Prozesse angepasst werden. Das Geschäftsmodell beruhte zum großen Teil auf präsentischen Bildungskonzepten und die waren zur Bekämpfung der Pandemie schlichtweg nicht mehr möglich.
Mit Beginn der Corona-Pandemie sind die Inhalte des F3_kollektiv schließlich doppelt zur Form geworden: als machtkritischer Anspruch an die Kollektivstrukturen und nun besonders auch als Digitalisierung des Kollektivs selbst, da digitale Kommunikation nicht nur der Inhalt geblieben ist, sondern auch zur Form jeglicher gemeinsamer Arbeits- und Geschäftsprozesse sowohl ›nach innen‹ wie auch ›nach außen‹ wurde.
Auch noch ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie stellt eine besondere Einschränkung ›nach außen‹ die Arbeit mit Schulklassen dar. Während Schulungen mit Multiplikator*innen oder öffentliche Seminare wie Vorträge mit wenig Aufwand digital durchführbar sind, bleibt es aufgrund der permanenten Unsicherheiten schwierig, Bildungsangebote an Schulen heranzutragen. Viele gebuchte Workshops werden nach wie vor regelmäßig wieder abgesagt. Auf der anderen Seite ist das F3_kollektiv in der gemeinsamen Arbeit auch ›nach innen‹ von der zunehmenden Digitalisierung betroffen.
»Das […] kann man vielleicht auch ein bisschen als Traurigkeit bezeichnen, dass man sich dann nicht sehen konnte. Genau: dass viele unserer sonst regulären großen Treffen dann auf einmal auch online stattfinden mussten. Da geht natürlich etwas verloren.«
(Interview F3_kollektiv)
Die gegenseitige Nähe, der Austausch und die Intensität der gemeinsamen Arbeitsprozesse sind entfallen, insbesondere die regelmäßigen Präsenztreffen, die große Bedeutung für die Zusammenarbeit hatten. Dies gewinnt besondere Relevanz vor dem Hintergrund, dass die Kollektivmitglieder mit ihrer Tätigkeit nicht ausschließlich ihre individuellen (ökonomischen) Existenzgrundlagen sicherstellen. Sie verstehen sich als ein enges Team, das sich nahesteht. Einander nicht präsentisch treffen zu dürfen, wurde und wird daher nicht als Erleichterung wahrgenommen durch Wegfall von Hin- und Herfahren. Sich in der eigenen Bildungsarbeit nicht nur inhaltlich, sondern auch persönlich begegnen und einander erleben zu können, führte schließlich zur Einführung von Videocalls, die zu mehr Gemeinschaftsgefühl beigetragen haben: »das werden wir beibehalten, weil es ja auch schön ist, sich zu sehen. Und das nochmal auch eine andere Form von Nähe schafft, als sich nur zu hören« (Interview F3_kollektiv).
Für die dynamische Selbstbefähigung und die strategische Adressierung der Corona-Krise erwies sich die vorgängige Beschäftigung mit Digitalisierung schlussendlich sogar als entscheidend. Dass sie als großer, neuer Themenkomplex in der politischen Bildungsarbeit zum Schwerpunkt wurde und mit dem Projekt #digitalglobal bereits verschiedene und neue, auch digitale Formate der Bildung geplant waren, wird wohl einen Großteil zur Krisenfestigkeit des Kollektivs beigetragen haben. Die Geschichte des Gelingens, die ich mit diesem Beitrag erzählen werde, nimmt ihren Ausgang bei den dynamic capabilities in der raschen Wahrnehmung und Deutung der Krise als eine Situation, zu deren Gestaltung die erforderlichen Kernkompetenzen bereits vorhanden sind.
Ungeplant Krisenfest
Auf die Lage ihres Kollektivs in Zeiten der COVID-19- Pandemie hin befragt, reagiert Evelyn Linde, Mitgründerin des F3_kollektiv und Mit-Verantwortliche für den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, beinahe gelassen: »Ich würde es als Glück im Unglück bezeichnen« (Interview F3_kollektiv). Ohne die Corona-Krise vorhergesehen zu haben, hatte das F3_kollektiv zum »richtigen Zeitpunkt« (ebd.) die »richtigen Angebote« (ebd.) bereits erarbeitet. Durch den thematischen Fokus auf Digitalisierung und die damit verbundenen Machtstrukturen war ein entscheidender Grundstein für die Umstellung präsentischer Bildungsprojekttage auf online-Projekttage bereits im Voraus gelegt. Insbesondere mit dem »größten Standbein« (ebd.), dem Projekt #digitalglobal, waren digitale Bildungstools methodisch bereits erarbeitet. Das spezifische Knowhow und »eine gewisse Infrastruktur« (ebd.), über welche die Bildungs-Unternehmung bereits verfügte, beförderten die Krisenfestigkeit ihrer Arbeit und wirkten sich ermöglichend auf ihre Handlungsfähigkeit im Angesicht der Krise aus. Als entscheidend erwies sich die Fähigkeit, um die eigenen Könnerschaften und Bedingungen zu wissen und diese gestalterisch auch in Situationen des Nichtwissens zu pflegen und neu zu konstellieren, die eigene Unternehmung also als Lösung der akuten gesellschaftlichen Herausforderung begreifen zu lernen. Dass Evelyn Linde auch strukturell von einer »relativ guten Ausgangslage« (ebd.) berichten konnte, liegt an der Überregionalität zwischen Köln, Berlin, Darmstadt und dem Wendland, was auch ›vor Corona‹ bereits die Herausforderungen mit sich brachte, Entfernungen zu überbrücken und neben regelmäßigen Treffen auch den digitalen Raum vielfältig für die gemeinsame Arbeit zu nutzen. Während viele andere Organisationen in Reaktion auf die Pandemie nur mehr oder weniger souverän in die Arbeit aus dem Homeoffice übergegangen sind, lagen die erforderlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse bei F3_kollektiv bereits vor. Je vielfältiger individuelle und kollektive Akteur*innen befähigt sind, desto krisenfester können Organisationen im Allgemeinen auf die Dynamiken strukturellen Wandels reagieren. Die Sensibilität und Achtsamkeit in Bezug auf Machtfragen und -ungleichheiten versetzte das F3_kollektiv im Speziellen dabei in die Lage, sich offen zu halten für neue Praxis und auch dafür, mit der bestehenden zu irren. Reflexivität in Bezug auf die eigenen Arbeits- und Geschäftsprozesse – weder Präsenz noch Digitalität dogmatisch als Königsweg zu behaupten – stellt die zentrale Bedingung dar, das Unbekannte gestalten zu können.
Wo es kriselt
Das Wissen um die Krisenhaftigkeit unserer Gesellschaft ist der Hauptantrieb für die Akteur*innen der politischen Bildungsarbeit. Das Ausmaß der Coronakrise, eingebettet in die vielen globalen und sozialen Krisen, bestärkt und motiviert Organisationen wie das F3_kollektiv, jetzt erst recht aktiv zu werden.
»Für sie erwächst daraus »die Motivation, andere Strukturen und Räume zu schaffen. Gerade aus der Analyse, dass die […] hegemonialen oder üblichen Strukturen Krisen mitproduzieren.«
(Interview F3_kollektiv)
Die Krise der Pandemie wird durch das F3_kollektiv nicht als rein medizinisches Phänomen gedeutet. Sie zeigt darüber hinaus auch, dass die Pandemie das Resultat einer tieferliegenden Gesellschaftskrise ist, dass also, theoretisch gesprochen, »der bislang dominierende wirtschaftliche, soziale, kulturelle Entwicklungspfad samt des damit verbundenen spezifischen Herrschafts-, Wirtschafts- und Sozialmodells […] an gesellschaftliche […] Grenzen stößt« (Reißig 2015, S. 4). Für das Kollektiv ist eindeutig: »Die Krise lüftet temporär den Schleier« (Folkers und Lim 2014, S. 49), der über den gesellschaftlichen Macht- und Missverhältnissen liegt. Das Corona-Virus macht sichtbar, was zuvor im ideologischen Nebel stand.
So wird während der Pandemie medial mehr als zuvor berichtet und diskutiert über Schulbildung und Bildungsungleichheiten. Das öffentliche Bewusstsein für die unterschiedlichen Bedingungen des Homeschoolings scheint geschärft worden zu sein, im Zusammenhang mit dem Bildungsstand der Eltern sowie der räumlichen und technischen Gegebenheiten zuhause. Vielfach ist dieser Tage die Rede von einer ›Bildungskrise‹. Für das F3_kollektiv bedeutet sie auch eine politische Krise und gleichzeitig eine Krise der politischen Bildung, insbesondere für junge Menschen:
»Natürlich ist das einfach ein massives Problem, wenn jetzt seit über einem Jahr Schüler*innen auch weniger Zugang zu politischer Bildung haben. Also gerade jetzt, wenn sowas wie Verschwörungsideologien und -erzählungen sich per Social-Media und per Telegram verbreiten.«
(Interview F3_ kollektiv)
Die Fähigkeiten der Unternehmung, gesellschaftliche Entwicklungen wahrnehmen sowie sie problematisieren und Schlüsse aus ihnen für das eigene Handeln ziehen zu können, ermöglichten ihr, dem eigenen Tun einen Sinn und eine gesellschaftliche Rechtfertigung zu verleihen. Sie bezieht sich empathisch auf die Situation derer, die mehr als andere von dieser Krise betroffen sind, was wiederum auf die Befähigung verweist, die Betroffenheit anderer wahrnehmen zu können.
»So geht es in besonderem Maße um Schüler*innen, die auf sich selbst gestellt sind, obwohl es »eigentlich umso wichtiger wäre, dass sie Angebote haben, in denen sie lernen, so komplexe Prozesse zu verstehen, zu bewerten, einordnen zu können, sich eine Meinung bilden zu können, selbst aktiv zu werden. […] ja, quasi mündig Gesellschaft mitzugestalten.«
(Interview F3_ kollektiv)
Die Interviewpartnerin erkennt die eigene Verantwortung, die ihr Kollektiv neben anderen Akteur*innen für die Persönlichkeitsentwicklung, Mündigkeit und politische Bildung der Schüler*innen trägt. Ihre Aktivität folgt der Sorge, die Isolierung der Schüler*innen im Homeschooling könne sich problematisch auf deren Persönlichkeits- und Urteilsbildung im Kontext komplexer politischer Prozesse auswirken. Diese Fähigkeiten des Mitleidens sowie des Antizipierens potenziell problematischer Entwicklungen und des Entwerfens von Strategien zu deren Bearbeitung resultieren aus der Selbstwahrnehmung als gesellschaftlich relevante Unternehmung. Aus dieser Haltung heraus versteht das F3_kollektiv es als eine »ganz wichtige Fähigkeit« (Interview F3_kollektiv), die Krise in ihrer politischen Bedeutung »so zu verstehen und sich da dann auch handlungsfähig zu fühlen« (Interview F3_kollektiv). Die Deutung der Krise durch die Bildungs-Unternehmung ist der entscheidende Ausgangspunkt für ihre Reaktion auf sie in Form von institutioneller Gestaltung und neuer Praxis.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kollektives Verändern durch digitale Teilhabe: Politische Bildungsarbeit in der Krise. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in fünf Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:
- Teil 1: Gesellschaft neu lernen
- Teil 2: Ungeplant Krisenfest
- Teil 3: Praxis transformiert
- Teil 4: Es bedarf Achtsamkeit
- Teil 5: Sinn legitimiert
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