Gesellschaft neu lernen

Gesellschaft neu lernen
Gesellschaft neu lernen | Bildquelle: Unsplash

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kollektives Verändern durch digitale Teilhabe: Politische Bildungsarbeit in der Krise. Das Feld der politischen Bildung lebt von einer Vielzahl kleinerer Vereine, die Workshops und öffentliche Veranstaltungen ausrichten. Die Covid-19 Pandemie stellte diese Vereine vor schwerwiegende Herausforderungen, denn plötzlich sind große Teile ihrer Arbeit nicht mehr möglich und die oftmals schon vor der Pandemie prekäre Finanzierungslage spitzt sich weiter zu. Dass diese Herausforderungen nicht zwangsläufig in Ohnmacht münden müssen demonstriert das F3_kollektiv. In ihrer Studie setzt sich Pina Schubert mit den Strategien zur Krisenbewältigung des Kollektivs mit thematischem Schwerpunkt »Digitalisierung aus einer machtkritischen Perspektive« auseinander und zeigt dessen transformatives Potential auf. Praxispartnerin ist Mitgründerin des F3_kollektivs, Evelyn Linde. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in fünf Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den ersten von fünf Teilen. Unterhalb des Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen. 


Gesellschaft neu lernen

Politische Bildungsarbeit ist heute und wird in Zukunft wichtiger denn je. Wir leben in einer Zeit multipler Krisen der Gesellschaft, in welcher es vor allen Dingen um eine Herausforderung geht: wir müssen lernen, anders beisammen und miteinander zu sein. Vereine und Kollektive, die in verschiedentlicher Form Bildungsarbeit leisten, tragen dazu bei. Inmitten von Krisen gestaltungsfähig zu werden, ist die Grundlage und Legitimation ihrer Arbeit. Für sie spielt politische Bildung, beziehungsweise Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) »eine Schlüsselrolle in der gesellschaftlichen Transformation« (VENRO 2020, S. 1).

Seit dem Agenda21-Aktionsprogramm der Vereinten Nationen haben sich neben den großen parteinahen Stiftungen und der Bundeszentrale für politische Bildung sowie den bereits bestehenden Umweltbildungszentren zahlreiche, häufig kleinere Vereine gegründet. Sie fördern mit ihrer Arbeit Bildung für nachhaltige Entwicklung und Globales Lernen1 . Ihr Ziel: Themen wie die Klimakrise, Globalisierung, Flucht und Migration, globale und soziale Ungerechtigkeiten möglichst spielerisch, aktiv, methodisch vielseitig, handlungsbezogen, themenübergreifend und mit Bezug auf die Lebensrealitäten der Schüler*innen oder Seminar- Teilnehmer*innen zu erklären, zu diskutieren, so Perspektivwechsel zu ermöglichen und für eigenes Engagement zu ermächtigen. Dieser Ansatz lebt von einem lebendigen, partizipativen und spielerischen Austausch zwischen den Referent*innen und Teilnehmer*innen, insbesondere im Kontrast zum regulären und zumeist frontalen Schulalltag oder einer instruktionsorientierten Berufsausbildung. 

Mit Beginn der COVID-19-Pandemie wurde die Arbeit der Vereine auf den Kopf gestellt. Es wurden Workshoptage abgesagt, Teamtreffen ebenso. Anfragen von Schulen und anderen Gruppen blieben vorerst aus. Die Pandemie hat die Krisenhaftigkeit der heutigen Gesellschaften im Globalen Norden für viele spürbarer gemacht: als Krise des Gesundheits- und Pflegesektors, der Vermögensverteilung und Schere zwischen Arm und Reich, dem Erstarken faschistischer Gruppierungen – aber eben auch als Krise in der gesellschaftlichen Versorgung mit politischer Bildung. Während die erste Reaktion vieler Vereine politischer Bildung war, hilflos Workshops abzusagen oder sie zunächst zu verschieben, wurde für einige Anbieter*innen bildungspolitischer Projekttage rasch klar: die Pandemie beeinträchtigt sie zwar, macht ihre Arbeit zugleich jedoch noch notwendiger und noch relevanter als zuvor. Aus dieser doppelten Betroffenheit heraus mussten neue Wege gefunden werden, um trotz aller Unsicherheit und Unwegsamkeit der Pandemie tätig zu bleiben, selbst Handlungsmacht zu gewinnen und Verantwortung zu übernehmen für den eigenen gesellschaftlichen Auftrag. 

Eine dieser Organisationen ist das F3_kollektiv aus Köln Berlin, Darmstadt und dem Wendland. Im Rahmen meiner Forschungen im Projekt ›Gelingensgeschichten‹ an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung habe ich mit Evelyn Linde gesprochen über Kollektivarbeit, machtkritische Bildung, Online-Konferenzen und die Gestaltbarkeit junger Institutionen. Den sozialtheoretischen Hintergrund dieser Forschung bildet ein praxistheoretischer Ansatz des Projektes, der sich weder in Strukturen noch in Individuen verliert, sondern sich an den konkreten Praktiken der Akteur*innen orientiert (Hildebrandt 2014, S. 8). Methodisch eignen sich die gewählten Expert*inneninterviews und die qualitative Inhaltsanalyse besonders gut, da sie den »wechselseitigen Dialog zwischen Theorie und Praxis« (Reißig 2015, S. 1) ermöglichen2

Mit dem vorliegenden Aufsatz dokumentiere ich die Praxis der Krisenbewältigung einer Unternehmung in der politischen Bildungsarbeit. Im Fluchtpunkt dieser Analyse steht die Frage nach dem transformativen Potenzial, also was von dem F3_kollektiv im Speziellen für eine Umgestaltung der Versorgung mit politischer Bildung allgemein gelernt werden kann. 

Politische Bildung ist weit und divers 

Neben der Bundeszentrale für politische Bildung und den großen parteinahen Stiftungen, die primär mit Bundesmitteln finanziert sind, lebt das Feld der politischen Bildung besonders durch eine Vielzahl kleinerer Vereine, die sich auf ein oder mehrere Themen spezialisiert haben. Im Unterschied zu den Stiftungen gelten für sie spezifische Logiken der Förderung. So sind sie auf eine Vielzahl unterschiedlicher Fördermittel und auch privater Spenden angewiesen. Die Fördermittel sind in der Regel gebunden an Auflagen zum Inhalt und zur Durchführung der Projekte. Meist haben sie eine Laufzeit von nur einem Jahr, bisweilen auch weniger. In vielen Fällen müssen die Vereine die Projekte sogar vorfinanzieren und bekommen die Gelder erst rückwirkend erstattet oder haben, wie mir eine Akteurin der Szene schilderte, zu Beginn eines Projekts noch keine Förderzusage. Im Verlauf der Pandemie verschlimmerte sich diese prekäre Situation. 

Während im Jahr 2020 »Fördergeber*innen sehr unterstützend und kulant waren« (Interview F3_kollektiv) in Bezug auf abgesagte oder digitale Veranstaltungen, wird seit dem Jahr 2021 das finanzielle Risiko, beispielsweise einer Absage, gemäß den Aussagen einer weiteren Feldakteurin, zunehmend verlagert auf die Seite der Vereine. Städtische Förderungen für sie fallen teilweise aus mit der Begründung, die Gelder würden dringender für Corona-Überbrückungshilfen benötigt. Für junge Initiativen, die nur einen kleinen Kreis von Förder*innen haben, wird die Pandemie so mitunter existenzbedrohend, wie mir von Betroffenen berichtet wurde. Bei meiner Recherche wurde ich durch weitere Akteur*innen des Feldes darauf aufmerksam gemacht, welchen enormen Unterschied der Standort des Vereins für diese Situation ausmacht. So berichtete eine Akteurin aus Sachsen beispielsweise von einer unterschiedlichen Prekarität der Vereine in den alten und neuen Bundesländern. 

Aufgrund geringer Verfügbarkeit von Fördermitteln haben gemeinnützige Vereine nur begrenzte Möglichkeiten, feste oder gar Vollzeit-Stellen zu schaffen. Die Arbeit in Vereinen der politischen Bildung findet in der Folge häufig auf der Basis von freiberuflichen Referent*innen statt, die oft nicht für ausschließlich einen Verein, sondern meist für mehrere Vereine und auf Honorarbasis tätig sind. Mit Beginn der Corona-Pandemie bedeuteten die abgesagten Veranstaltungen für sie einen abrupten und einschneidenden Verdienstausfall. Wie viele andere Selbstständige traf sie die Pandemie besonders existenziell und machte sie abhängig von den sogenannten Corona-Hilfen für Solo-Selbstständige. Die strukturellen Probleme in der Organisation von politischer Bildung ›vor Corona‹ wurden ›durch Corona‹ also nur noch sichtbarer und noch problematischer. Die Arbeit in der außerschulischen politischen Bildung bietet den Akteur*innen erwerbsbiografisch wenig Sicherheit. Sie macht nicht reich und geschieht wohl hauptsächlich aus der Überzeugung, das Richtige zu tun. 

Auffallend viel Idealismus prägt das Feld und die Haltung der Akteur*innen. Auch die Mitglieder des interviewten F3_kollektiv teilen weit mehr als nur ihren Arbeitsplatz: Die Vorstellung von einer anderen Welt hält sie zusammen – eine Welt, in der sowohl Rassismus und Sexismus, globale und soziale Ungleichheiten in vielerlei Hinsicht überwunden sein werden und Raum für neue Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens entstehen können. Der Inhalt ihrer Bildungsarbeit wird in diesem Sinne gleichzeitig zur Form: Aus der Überzeugung heraus ist es für das F3_kollektiv – wie für viele andere Träger*innen politischer Bildungsarbeit – selbstverständlich, beispielsweise ihre entwickelten Bildungsmaterialien im Open-Access zur Verfügung zu stellen. Neben Lehr-Lern-Materialien werden zudem Best Practices und Ideen geteilt, auch in Bezug auf eine gelungene Bewältigung der pandemiebedingten Krisensituation. Die Akteur*innen der politischen Bildungsarbeit, und so auch das F3_kollektiv, haben sich mithin gegenseitig Orientierung ermöglicht für neue Lösungsansätze im Feld. Wiewohl die Vernetzungsarbeit durch die COVID-19-Pandemie aufwendiger und komplizierter geworden ist, ist sie noch immer und mehr denn je Ausdruck des solidarischen Miteinanders innerhalb der Szene. Sie war und bleibt eine Selbstverständlichkeit im Feld des Globalen Lernens und machtkritischer Bildungsarbeit. Solidarität und Kooperation rücken somit nach innen wie nach außen an die Stelle von Konkurrenz und Opportunismus. 


Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Kollektives Verändern durch digitale Teilhabe: Politische Bildungsarbeit in der Krise. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in fünf Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:

Die gesamte Studie im Open Access lesen.


  1. Globales Lernen ist »ein Teil der BNE, der sich auf Handlungskompetenzen bezieht, die im Zusammenhang des Nord-Süd-Verhältnisses in einer sich globalisierenden Welt notwendig sind« (Sukuma arts e. V. 2021; siehe Overviewn und Rode 2013 für genauere Ausführungen). Die Maastrichter Erklärung aus dem Jahr 2002 definiert Globales Lernen als »Bildungsarbeit, die den Blick und das Verständnis der Menschen für die Realitäten der Welt schärft und sie zum Einsatz für eine gerechtere, ausgewogenere Welt mit Menschenrechten für alle aufrüttelt. Globales Lernen umfasst entwicklungspolitische Bildungsarbeit, Menschenrechtserziehung, Nachhaltigkeitserziehung, Bildungsarbeit für Frieden und Konfliktprävention sowie interkulturelle Erziehung, also die globalen Dimensionen der staatsbürgerlichen Bildung« (EPN Hessen 2021). []
  2. Die Durchführung der Methode orientierte sich an Gläser und Laudel (2009) sowie Kuckartz (2016). Für eine genauere Methodenbeschreibung siehe Hochmann in diesem Band. []