Über die Rechtfertigung
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Die Neuerfindung des Kultursektors: Wie Musikunternehmungen zu Solidarität und Kooperation befähigen. Es gibt wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von der Covid-19 Pandemie betroffen war. Jedoch traf die Pandemie nicht alle gleichermaßen. Als besonders Krisenanfällig stellte sich der Kultursektor heraus, was auf seine schon vor der Pandemie fragile Strukturen und die Abhängigkeit von häufig prekär beschäftigten Solo-Selbstständigen und Kleinunternehmer*innen zurückgeführt werden kann. Dass auch unter diesen erschwerten Bedingungen Krisenbewältigung gelingen kann zeigt Jakob Fraisse in seiner Studie, anhand der Unternehmungen jazzahead! und JazzLab, auf. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den vierten von sechs Teilen. Unterhalb es Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen.
Mit dem Dürfen neuer sozialer Praktiken thematisiere ich, wie die Akteur*innen diese veränderte Praxis legitimieren und wie eine solche Legitimierung mit anderen Akteur*innen verhandelt und kommuniziert wird.
Rechtfertigungs- und Kommunikationsmuster: Bei der Entwicklung neuer Praktiken gibt es oft ein initiierendes Moment, an dem sich eine Diskussion über die richtige Handlungsweise anschließt. Teilweise spielen dabei akteursspezifische Kommunikationsmuster eine wichtige Rolle, beispielsweise die Kommunikation im Plenum innerhalb eines Kollektivs. Durch die Kategorie Rechtfertigungsmuster erläutere ich ihre Legitimierung und Delegitimierung. Es fällt auf, dass die neuen Praktiken widerspruchsvoll sind und durch verschiedentliche Formen der Legitimation begründet werden. Diese Ambivalenz betrifft beispielsweise den Einsatz von Digitaltechnologien: Auf der einen Seite wird er mit der Möglichkeit der institutionellen Zweckerfüllung unter Pandemie-Bedingungen begründet. Auf der anderen Seite werden negative Folgen wie die Beeinflussung kultureller Inhalte und der Ausschluss von Mitgliedern der Institution delegitimierend angeführt. Im Fall des Kollektivs fand eine Debatte darüber statt, inwiefern digitale Formate dasjenige Gemeinschaftselement transportieren, für welches das Kollektiv stehe.
»Unsere Veranstaltung, unser Kollektiv, unsere Gedanken, die da hinter sind, und uns diese Atmosphäre, die uns sehr doll ausmacht, […], lebt eigentlich vom vor Ort […].«
(Interview JazzLab)
Solche Dynamiken innerhalb der Deutung eines sozialen Feldes entstehen mitunter aus Konventionen (z. B. Knoll 2017). Um die Verständigung auseinandergehender Deutung zu verstehen, muss diese theoretisch wie praktisch konzeptualisiert werden durch »Praktiken der Bewertung, der Kritik und der Rechtfertigung, wie auch der Anordnung von Situationen nach bestimmten Rationalitätskriterien« (Pohler 2021, S. 1). Kritik und argumentative Auseinandersetzung spielen sich hier vor dem Hintergrund verschiedener miteinander konfligierender Rechtfertigungsordnungen (Knoll 2012, S. 64) ab. Begründungen für bestimmte Handlungen sind diesbezüglich juristischer, technischer, institutioneller, moralischer und personaler Provenienz. Im Rahmen dieser Ordnungen lassen sich Reibung und Konflikt beobachten. Neue Praktiken werden im Sinne der einen Ordnung legitimiert und im Sinne der anderen delegitimiert. So ist der Einfluss technischer Einrichtungen auf die Musik selbst beispielsweise eine Begründung für das JazzLab-Kollektiv, nicht wie die jazzahead! auf digitale Formate zu setzen.
»Wenn ihr als Musiker auf der Bühne seid, vor dir 100 Leute, die tanzen oder aufmerksam zuhören, dann spielst du anders, als wenn du im Studio bist oder vor der Kamera bist.«
(Interview JazzLab)
Gleichzeitig ist die institutionelle Rechtfertigung, dass digitale Kommunikationstools effizient sein können, Argument dafür, eine solche Technologie für die Organisation des Kollektivs zu nutzen. Bei der jazzahead! sind es zunächst die Kosten der nötigen technischen Ausstattung, die gegen das Erproben neuer Praktiken der Digitalität sprechen.
»Und dann hätten wir das Equipment auch jedes Mal anmieten müssen. Also es war auch eine finanzielle Überlegung, zu sagen, Equipment mieten, kostet mich mehr, plus der Arbeitsaufwand, von Leuten, die das eigentlich nicht hauptberuflich machen, die halt sonst so IT-Kram machen, aber nicht Kabel verlegen.«
(Interview jazzahead!)
Die Interviewpartnerin beschreibt aber auch einen moralischen Zwang, eine Möglichkeit zu finden, sich trotz ausfallender Veranstaltung intensiv auf inhaltlicher Ebene mit der Situation von Kulturakteur*innen gerade in Zeiten der Pandemie zu beschäftigten.
»Und überhaupt gibt es noch so viele Themen, die man bearbeiten kann und müsste, wo wir auch überhaupt innerhalb der jazzahead! nicht die Zeit für haben. Oder es nie so ausschlachten in der Tiefe. Und das ist total cool, das endlich mal machen zu können.«
(Interview jazzahead!)
Hierbei handelt es sich also um eine moralische Rechtfertigung, die neue Praxis doch zu erproben. Trotz verschiedener Formen der Delegitimierung setzen sich die neuen Praktiken durch.
Wichtige Fähigkeiten für die Rechtfertigung neuer Praxis der Krisenbewältigung sind Sprachfähigkeit und in diesem Kontext auch eine Diskursfähigkeit. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, verschiedene Standpunkte hören und aushalten zu können. Denn nur, wenn der Umgang mit der besonderen Situation wirklich als kontingent gesehen wird und die Beteiligten sich frei einbringen können, fühlen sich die Akteur*innen als Teil des Prozesses hin zu der veränderten Praxis.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Die Neuerfindung des Kultursektors: Wie Musikunternehmungen zu Solidarität und Kooperation befähigen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:
- Teil 1: Das dünne Eis des Kultursektors
- Teil 2: Musikunternehmungen im Ringen mit der Krise
- Teil 3: Doing Verantwortung
- Teil 4: Über die Rechtfertigung
- Teil 5: Möglichkeitssinn und Zukunftsmusik
- Teil 6: Quo vadis, Kultursektor?
Die gesamte Studie im Open Access lesen.