Das dünne Eis des Kultursektors

Das dünne Eis des Kultursektors
Das dünne Eis des Kultursektors | Bildquelle: Unsplash

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Die Neuerfindung des Kultursektors: Wie Musikunternehmungen zu Solidarität und Kooperation befähigen. Es gibt wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von der Covid-19 Pandemie betroffen war. Jedoch traf die Pandemie nicht alle gleichermaßen. Als besonders Krisenanfällig stellte sich der Kultursektor heraus, was auf seine schon vor der Pandemie fragile Strukturen und die Abhängigkeit von häufig prekär beschäftigten Solo-Selbstständigen und Kleinunternehmer*innen zurückgeführt werden kann. Dass auch unter diesen erschwerten Bedingungen Krisenbewältigung gelingen kann zeigt Jakob Fraisse in seiner Studie, anhand der Unternehmungen jazzahead! und JazzLab, auf. Ursprünglich ist diese Studie gemeinsam mit fünf weiteren »Geschichten des Gelingens« in einem Sammelband bei Metropolis erschienen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Bei diesem Artikel handelt es sich um den ersten von sechs Teilen. Unterhalb es Artikels wird auf die weiteren Teile verwiesen. 


Kaum eine Branche wird von den Auswirkungen der COVID-19- Pandemie so hart getroffen wie der Kultursektor (Statista 2021). Von April 2020 bis Mai 2021 gilt ein Veranstaltungsverbot, das einem Großteil der Kulturakteur*innen die Arbeitsgrundlage entzieht (Tagesschau 2020). Hinzu kommt, dass die Branche historisch gewachsen stets schon fragil strukturiert war (Höhne und Glesner 2018, S. 9) und daher unter erschwerten Bedingungen einen adäquaten Umgang mit der Krise finden muss (Zimmermann 2020, S. 9). Auf das »dünne Eis« (ebd.), auf dem Kulturakteur*innen stehen, wirkt die COVID-19-Pandemie wie der Frühlingsbeginn: Tag für Tag wächst die Gefahr, in das Eis einzubrechen. Es stellt sich daher die Frage, wie die sprichwörtliche Kuh vom Eis kommt, das heißt, wie die Kulturakteur*innen durch andere oder sich selbst befähigt werden können, ihrer kunst- und kulturschaffenden Tätigkeit zukunftsfähiger als bislang nachzugehen. 

Mit meinem Beitrag untersuche ich in diesem Kontext neue Praktiken der Krisenbewältigung von Kulturakteur*innen und frage danach, inwiefern sie als Teil eines Transformationsprozesses hin zu einer zukunftsfähigen Gestaltung der Kulturbranche zu verstehen sind. Diese Frage beantworte ich durch die Analyse der Musikmesse jazzahead! und des Musikkollektivs JazzLab. Beide Unternehmungen zeichnen sich durch einen progressiven und gestalterischen Umgang mit der Pandemie aus. Sie scheuen sich dabei nicht davor, Neues auszuprobieren. Das macht ihre Geschichten zu Geschichten des Gelingens, die es lohnt, erzählt und gehört zu werden. 

Der Beitrag ist in vier Abschnitte gegliedert: In Abschnitt 2 stelle ich die beforschten Fälle anhand des erhobenen empirischen Materials vor. In Abschnitt 3 beschreibe ich die Ergebnisse und interpretiere diese vor dem Hintergrund von Sozial- und Kulturtheorien. In Abschnitt 4 diskutiere ich diese Ergebnisse in Bezug auf die Fragestellung und schließe mit einem Resümee. 

Musikunternehmungen im Ringen mit der Krise 

Das Feld des Kultursektors umfasst hierzulande eine Vielzahl an Akteur*innen und Institutionen. Um sie zu überblicken, hilft es nicht, wie üblich zwischen Kulturbereich und Kreativökonomie zu unterscheiden, da eine solche »eherne Grenze« (Brosda 2020b, S. 205) Konflikte und politische Verantwortungsdiffusion katalysiert (ebd.). Da es mir jedoch gerade auch um die Frage nach praktizierter sowie unterwanderter Verantwortung geht, arbeite ich mit einem feldtheoretischen Zugang. Den Kultursektor definiere ich als ein »Feld der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, einer bestimmten Art von symbolischen Gütern, denen eine spezifische kulturelle Legitimität zuerkannt wird« (Bourdieu 2014, S. 13). Ein solches Feld kann in einem weiteren Schritt dreifach unterteilt werden in den »erwerbswirtschaftlichen auf Gewinnerzielung ausgerichteten Sektor […] den öffentlichen [… und] den Non-Profit-Sektor« (Schulz 2020, S. 20). 

Um das breite soziale Feld des Kultursektors zugänglich und forschungspraktisch handhabbar zu machen, konzentriere ich mich auf den erwerbswirtschaftlichen Teil, der vor allem unter der Situation leidet. Über die besondere Beschaffenheit des Kultursektor lässt sich erklären, warum grade dieser Teilbereich so anfällig für die Corona-Krise ist: weil es »eine große Gruppe an Solo-Selbstständigen sowie Kleinunternehmern und -unternehmerinnen in der Kultur- und Kreativwirtschaft gibt, die in ›normalen‹ Zeiten geradeso über die Runden kommt, deren Einnahmen aber nicht ausreichen, um finanzielle Polster aufzubauen, damit sie Komplettausfälle an Einkommen kompensieren können« (Schulz und Zimmermann 2020, S. 471 f.). Diese Situation ist strukturell:

»Wir reden in der Politik eben fast immer nur über die institutionalisierte Szene. Es gibt eine Hilflosigkeit bei jenen Künstlerinnen und Künstlern, die nicht über einflussreiche Verbände organisiert, aber besonders von dieser Krise betroffen sind.«

(Stieber 2020, S. 13)

Im Rahmen meiner Studie habe ich das Feld weiter eingeschränkt und mich mit Musikunternehmungen befasst. Ihre Krisenanfälligkeit ist insbesondere auf die enge Verflechtung im Feld zurückzuführen, weil Tätigkeiten ineinandergreifen und die Akteur*innen so voneinander abhängig machen.

»Wenn keine Veranstaltungen stattfinden, entfallen nicht nur Aufträge für Künstler, sondern ebenso für Tontechnikerinnen, Maskenbildner und viele andere mehr.«

(Schulz und Zimmermann 2020, S. 477)

Im Musikbereich ist eine enge Verflechtung offensichtlich. Gerade die von mir untersuchten Unternehmungen zeichnen sich durch einen hohen Grad an Bezugnahmen und Vernetzungen aus. Gleichzeitig handelt es sich um zwei besonders von der COVID- 19-Pandemie betroffene Unternehmungen des Jazz-Musikbereichs. 

Die erste untersuchte Musikunternehmung ist das JazzLab (2021), ein Verbund in Hamburg aktiver und miteinander assoziierter Jazz-Künstler*innen und Kulturmanager*innen. Die beiden Interviewpartner Phillip Püschel und Lasse Grunewald1 sehen sich mit dem Kollektiv als das Sprachrohr für einen Teil der Hamburger Jazz-Szene. Das Kollektiv versteht sich als Impulsgeber für Bands, Albumveröffentlichungen und neue Konzertformate. Für die Erzählung von Gelingensgeschichten ist es interessant, da der Ansatz des Kollektivs darin besteht, gerade in der Krise zu versuchen, die Musiker*innen im Kollektiv zu ermutigen, sich künstlerisch zu verwirklichen und ihnen gleichzeitig einen Kanal für ihren Output zu geben. Gerade in diesen Zeiten scheint das Kollektiv aufgrund seiner Krisenfestigkeit und seiner solidarischen Praxis für seine Mitglieder an Bedeutung zu gewinnen. Aufgrund seiner selbstermächtigenden Organisationsform und Handlungsweise ist es auch wissenschaftlich eine interessante Gelingensgeschichte. 

Die zweite untersuchte Musikunternehmung ist die jazzahead!, eine Musikmesse und ein Branchentreff von internationalen Jazz-Akteur*innen. Sie wird von mehreren tausend Fachteilnehmer*innen und Unternehmen aus rund 60 Ländern besucht (jazzahead! 2021a). Die Interviewpartnerin Katharina Busch beschreibt sie als einen Pflichttermin für die internationale Jazzbranche, auf der sich alle Protagonist*innen begegnen. Dabei sei die jazzahead! mehr als nur eine bloße Netzwerkveranstaltung, sondern vielmehr eine Art ›Familientreffen des Jazz‹, auf dem sich Kooperations- und Geschäftspartner*innen, miteinander assoziierte Künstler*innen und Medienvertreter*innen jährlich treffen. Sie hat sich innerhalb der letzten 15 Jahre als eine international renommierte Jazz-Institution etabliert und wird unterstützt von zahlreichen lokalen, nationalen und internationalen Förderinstitutionen, beispielsweise der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters. 

Aufgrund ihres innovativen Umgangs mit Krise ist die Messe ebenfalls eine wissenschaftlich interessante Gelingensgeschichte. Die spontane Hinwendung zu inhaltlichen Aspekten in Form von Digitalformaten sowie das Projekt einer digitalen Messe als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie stellen Neuerungen dar. Die Idee der Plattform wird so in den digitalen Raum verlagert und von einer viertägigen Veranstaltung auf einen ganzjährigen Zeitraum ausgeweitet.


Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Studie Die Neuerfindung des Kultursektors: Wie Musikunternehmungen zu Solidarität und Kooperation befähigen. Der Lesbarkeit halber wurde die Studie für die Veröffentlichung in diesem Online-Magazin in sechs Artikel unterteilt. Hier findest du alle Teile im Überblick:

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  1. Auf Grund des Verständnisses, dass keine Person ein ganzes Kollektiv repräsentieren könne, habe ich dem Wunsch entsprochen, das Gespräch mit beiden Interviewpartnern gleichzeitig zu führen und unabhängig davon, wer gerade spricht, zu zitieren. []